Schrumpfende Kameras eröffnen immer neue Anwendungen

Der Mensch ist heute ein Homo photographicus: In einem Jahr knipsen Menschen die unvorstellbare Zahl von 1,4 Billionen Bilder, über 90 Prozent davon mit den Kameras ihrer Smartphones. Jetzt bekommen Menschen beim Fotografieren Konkurrenz: Von der Türglocke bis zum Smart Speaker, vom Auto bis zur Drohne bekommt die Welt der Dinge Augen.

Helmut Spudich

Als Eastman Kodak 1963 die Instamatic Kamera nach jahrelanger intensiver Entwicklungsarbeit auf den Markt brachte, war dies wie ein Booster für die fotografische Revolution des 20. Jahrhunderts. „Abdrücken, und Kodak macht den Rest“: Bis 1970 verkaufte Kodak 50 Millionen Stück der Kamera, die einfacher zu bedienen war als alles, was es zuvor gab. 1963 wurden weltweit jährlich 3 Milliarden Fotos geknipst, in einem Jahr so viele wie in den 100 Jahren davor. Zu Ende des Jahrzehnts hatte sich diese Zahl mit 10 Milliarden Fotos mehr als verdreifacht.

Heute nehmen sich diese Mengen lächerlich bescheiden aus. Alleine in einem einzigen Quartal verkauft Marktführer Samsung mehr Smartphone-Kameras als Kodak von seiner Instamatic in sieben Jahren. Die Zahl der jährlich geschossenen Fotos wird heute in Billionen statt Milliarden ausgedrückt: 1,4 Billionen waren es 2020. Und mehr als 90 Prozent davon kommen aus Smartphones, nur noch 7,3 Prozent aus “richtigen” Kameras (Tendenz weiter sinkend). Von Katzen und Babys bis zu Autos und Reisen – und im Jahr des Lockdowns Spaziergänge durch Wald und Wiese: 300 Millionen dieser Fotos laden wir täglich in soziale Medien hoch, stolze 110 Milliarden im Jahr. Eine beträchtliche Zahl davon sind Selfies: Der durchschnittliche Millenial wird in seiner Lebenszeit 25.000 Bilder von sich selbst machen — vom Homo photographicus zum Homo narcissus.

Millenials werden im Durchschnitt 25.000 Selfies in ihrer Lebenszeit machen

Millenials werden im Durchschnitt 25.000 Selfies in ihrer Lebenszeit machen. Brandenburger Tor, Berlin / F: spu

Digitalisierung und Miniaturisierung sind der Schlüssel für diese Explosion an Kameras und Fotos. Und die Entwicklung zu immer kleineren, immer vielseitiger einsetzbaren Kameras ist bei weitem nicht abgeschlossen, sagt Steve Anderson, der bei AT&S Americas in den USA das Business Development in diesem Bereich leitet. “Die Module werden weiterhin so stark schrumpfen, dass wir in drei bis vier Jahren beispielsweise auch in Smart Watches und Smart Glasses Kameras verbauen können”, nennt Anderson Beispiele für Anwendungen, die kurz vor der Markteinführung stehen. Erst vor kurzem stellen Ray Ban und Facebook die Ray Ban Stories Brille vor, die Fotos und Videos aufnehmen und auf Facebook hochladen kann.

2020 war das Jahr, in dem “Zoom” zum Allgemeinbegriff für Videokonferenzen wurde. Home-Office und Distance Learning brachten Videokonferenzen in Marathonformaten in fast jeden Haushalt und zwangen viele Menschen dazu, den ganzen Tag vor einem Bildschirm zu verbringen. Künftig könnten Smart Glasses zur bevorzugten Form werden, um an Videokonferenzen teilzunehmen: Die Augengläser dienen zugleich als Display, eine integrierte Kamera kann „sehen“, wo wir gerade hinschauen und so eine möglichst echt wirkende virtuelle Realität aufbauen, beschreibt Anderson. Eine andere Anwendung aus dem Bereich des Distance Learning: “Wenn Studenten mittels Tablet einen Prüfungstest machen, kann die Tabletkamera dank Gesichtserkennung kontrollieren, ob tatsächlich der angemeldete Student und nicht etwa seine Schwester oder Bruder den Test machen”, sagt Andersson.

Ein riesiges neues Anwendungsgebiet für schrumpfende Kameras ist die Welt der Dinge, in der nicht Menschen, sondern Geräte und Maschinen die Welt zu “sehen” lernen und dementsprechend selbstständig steuern können. Vor allem der Automotive-Bereich ist hier ein starker Treiber: Radar- und Lidar-Systeme für Fahrassistenzsysteme — und in fernerer Zukunft autonom fahrende Fahrzeuge — setzen eine Vielzahl von Kameras ein, um das Verkehrsgeschehen in Echtzeit zu beobachten und zu analysieren. Zu Jahresbeginn zeigte AT&S bei der CES 2022 (Consumer Electronics Show) seine Entwicklungen in diesem Bereich.

Sehende Autos: Lidia ermöglicht Autos, ihre Umgebung wahrzunehmen

Sehende Autos: Dank Lidar können Autos künftig ihre Umgebung wahrnehmen und automatisiert reagieren. / F: Shutterstock

Schon heute gibt es Autos, die dank 360-Grad-Kameras selbstständig einparken können. “Gerade in Europa mit engen Straßen und Parkhäusern ist das ein Vorteil: Man steigt vor dem Parken aus, dann nutzt das Auto eine Parklücke, die sonst zu eng wäre. Wenn man wieder wegfährt, lässt man das Auto zuerst ausparken, ehe man einsteigt”, sagt Anderson. Der Fantasie, wie Kameras im Auto genutzt werden können, sind fast keine Grenzen gesetzt: “Es gibt Kameras, die den Fahrer oder die Fahrerin beobachten und bei Ermüdungserscheinungen das Auto sicher anhalten können. Kameras, über die wir mit Gesten Funktionen steuern können. Oder Seitenkameras, damit man am Head-Up-Display im Vorbeifahren die Häuser sieht, wenn man eine Straßennummer sucht.”

Andere Anwendungen finden sich bereits millionenfach in Türglocken, die zugleich ein Auge für Hausbewohner sind, die gerade nicht daheim sind. “In Hinblick auf die zunehmende Zahl an Paketen, die wir heute geliefert bekommen, ist das sehr praktisch: Man kann über eine Handyapp kontrollieren, wer läutet und allenfalls dem Zusteller sagen, wo das Paket abgestellt werden kann.” Smart Speaker können mit Kamera und Display zu einem Konferenztool werden. “Ruf Oma an”, und schon kann die Familie am Küchentisch mit den Großeltern einen Tratsch abhalten.

Für die Hard- und Softwareentwicklung bring dies komplexe Anforderungen, an denen AT&S-Labors arbeiten. Der Schlüssel sind so genannte IC Substrates (Integrated Circuit Substrates), die Entwicklung von Modulen, die alle Komponenten — Optik, Sensoren, Chips, Leiterplatte — in einem einzigen Bauteil vereinen. Das ermöglicht wiederum, dass die enorme Datenmenge bereits in diesem Modul in Echtzeit verarbeitet und analysiert wird, statt Daten an eine zentrale Recheneinheit weiter zu leiten und damit wertvolle Zeit zu verlieren. “Es genügt nicht eine Kamera zu verbauen. Erst wenn dieser Bauteil die ganze Arbeit der Erfassung und Verarbeitung erledigt, kann man damit alles machen, was sich unsere Kunden vorstellen”, beschreibt Anderson.

Veröffentlicht am: 13. Januar 2022

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