In der Pandemie wird die virtuelle Welt zu unserem realen Alltag

Mit Home-Office, Distance Learning und Virtual After Work Acitivites hat uns das Leben in der virtuellen Welt eingeholt. Dabei ist Virtual Reality schon lange Realität – aber noch nie war sie so real wie seit Corona.

Erinnern Sie sich an Second Life? Vor einer Ewigkeit, nach Internetzeit gemessen, machte die virtuelle 3D-Welt Furore. Man schlüpfte in die Haut seines selbstgeschaffenen Avatars und stürzte sich in die Entdeckungsreise durch fremde Welten, die andere Benutzer –in der Second-Life-Welt „Bewohner“ genannt – erschufen, gestalteten, spannend machten. Es gab Berge und Inseln, Städte und Dörfer, Konzerthallen, Shopping Malls, Konferenzzentren und Universitäten, und um ein paar Linden-Dollars — die aus und in richtige US-Dollar konvertierbare virtuelle Second-Life-Währung, lange bevor jemand Bitcoin buchstabieren konnte — war man dabei.

Second-Lifer formierten sich in virtuellen Gemeinschaften, die einen wollten spielen, andere die Umwelt retten und trafen sich bei Greenpeace zu virtuellen Aktionen, wieder andere shoppen.  Kommunikationsräume, Chats, Messengerdienste florierten lange bevor Facebook, Twitter und WhatsApp das Licht von Displays erblickt hatten. Firmen von Adidas, BMW und Mercedes bis Dell und IBM unterhielten Flagship-Stores, in denen reale und virtuelle Waren und Dienstleistungen angeboten wurden. Beim Pavillon der Deutschen Post konnte man Ansichtskarten von der zweiten in die erste Welt verschicken, und AvaStar des Axel-Springer-Verlags sorgte dafür, dass die virtuellen Bewohner ihr “Bild” nicht vermissen mussten.

2007, vier Jahre nach der Eröffnung von Second Life, feierte die virtuelle Welt ihre erste reale Dollar-Millionärin, die als virtuelle Immobilienhändlerin der Second-Life-Welt zu echtem Reichtum gekommen war. Große Unternehmen hielten für Mitarbeiter wie Kunden Events ab, bei denen sie neue Produkte vorstellten. Schulen und Universitäten erprobten E-Learning und stellten ihren Absolventen Zeugnisse aus. Der Dresdner Zwinger baute seine Gemäldegalerie Alte Meister als virtuelles Museum nach.

2013 erreichte Second Life mit 36 Millionen Benutzern seinen größten Bevölkerungsstand, dann ging es rapide bergab. “Reale” Plattformen, allen voran Facebook, setzten auf Echtnamen statt Anonymität und vernetzten vor allem die Menschen, die einander schon kannten, wenn auch nur flüchtig und als “Freunde von Freunden”. Dazu kamen technische Aspekte: 3D-Welten wie Second-Life brauchen schnelles Internet, eigene Software und große Rechenleistung, die in den 2000-er Jahren nicht so alltäglich waren wie heute. Facebook startete hingegen mit Text-Postings in einem Browser; erst seit der mobilen Revolution und dem Smartphone verwandelte sich das soziale Netzwerk zunehmend in ein Bild- und Videomedium und eine App. 3D-Elemente sind inzwischen Teil des “Facebook Experience” und seit dem Kauf der Virtual-Reality-Brille Oculus will das Netzwerk noch stärker in virtuelle Welten einsteigen.

Dabei steckt Virtualität in der DNA der digitalisierten Welt. Unsere Computer haben “Schreibtische” und “Ordner”, Mail wird gerne per “Durchschlag” an große Verteiler verschickt, die nie darum gebeten haben – als cc: Carbon Copy, und bcc: Blind Carbon Copy, die gängige englische Nomenklatur des Briefzeitalters. Selbst die jüngste Hervorbringung des Social-Media-Zeitalters, Clubhouse, arbeitet mit “Rooms”, in denen sich virtuelle Gemeinschaften treffen, um zu einem Thema oder auch nach Art eines Jour Fixe die Weltlage abzuquatschen. Ganz nach dem Archetyp virtueller Gemeinschaften, dem 1985 im Silicon Valley gegründeten legendären “The WELL” – aus dessen Beobachtung der Internet-Soziologe und Autor Howard Rheingold 1993 den Begriff der “Virtual Community” ableitete.

Aber während sich das “Virtuelle” mit der rapiden Ausbreitung von PCs, Internet und dem Smartphone längst in unserer Alltagssprache eingebürgert hat, hat jetzt erst Corona für einen ungeahnten Schub bei der Virtualisierung unseres Alltags geschaffen. In Zeiten von Lockdowns finden Meetings, Vorlesungen, Schulklassen und ganze Konferenzen nur noch online statt. Große Elektronikmessen wie die IFA Berlin und die CES in Las Vegas verlagerten sich mangels Alternative in die virtuelle Welt. Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, im leeren Musikvereins-Saal aufgeführt, bekommt millionenfachen Applaus aus aller Welt dank einer App.

Hollywood, das sich schon immer darauf verstand, uns in virtuelle Welten zu entführen, entwickelte 2020 in einem Kraftakt die Werkzeuge, um große Produktionen dank virtueller Techniken zu retten: Ein kleiner Trupp an Location Scouts baut dank Lidar fotografische 360-Grad-Abbildungen des realen Settings, das dann auf Stagecraft LED, einer gigantischen Displaywand, für die Schauspieler eingespielt wird. Inzwischen können die sonst vor Ort befindlichen riesigen Mannschaften an Editors, Produzenten, Skriptautoren in ihrem “Home Office” live den Dreh verfolgen und ihre Rückmeldungen geben — sogar mittels Laserpointer auf die entfernte Bühne oder der Möglichkeit, Kameraeinstellungen vorzunehmen.

Die nächste Herausforderung dieser Transformation von “richtigen” in “virtuelle” Umgebungen sind Ausstellungsräume und Messen, in denen Produkte präsentiert und besichtigt werden und Menschen zu Gesprächen und Vorträgen zusammentreffen. Hier engagiert sich derzeit AT&S mit der Entwicklung seines virtuellen Showrooms. “Tech-Events, Fachmessen und Konferenzen sind für uns als global tätiges Unternehmen ein enorm wichtiger Austausch mit unseren Kunden”, sagt Gerald Reischl, Kommunikationschef von AT&S. “Von ihnen erfahren wir hier, was sie brauchen und wir können ihnen zeigen, welche Lösungen wir für sie entwickeln können. Diese physischen Kanäle sind uns jetzt durch die Pandemie versperrt, also entwickelten wir dafür einen virtuellen Showroom.”

“Unser virtueller Showroom führt unsere Besucher in unsere Welt, ganz wie bei einer Trade Show oder Messe. Wir zeigen unsere Produkte, haben Lounges um mit Kunden individuell sprechen zu können, und Bühnen für Präsentationen und Events”, beschreibt Reischl. “Wir glauben an den Live-Charakter von Events, bei dem wir Teilnehmer aus aller Welt zusammenbringen können und die lebendige Atmosphäre einer richtigen Veranstaltung entsteht. Es macht eben einen Unterschied, ob eine Vorstellung Live abläuft, oder aus der Konserve kommt – darum auch ein dreidimensionaler Showroom, in dem man sich je nach Interesse bewegen kann, und nicht einfach Videos und Zoommeetings. Obwohl wir natürlich auch das bieten können, zum Nachschauen für Leute, die den Termin verpassten, oder späteres Follow-Up.”

So bekommt das Konzept von Second Life, eine Pandemie später, eine zweite Chance: Die perfekte Simulation der “richtigen” in der “virtuellen” Welt. Virtuelle Showrooms werden derzeit von einer Reihe von Konzernen erprobt und finden zunehmend Anklang: Auch in Lockdown-Zeiten hungern wir nach Begegnung, und sei sie nur online. Diese Chance hat auch Linden Lab erkannt, der Betreiber von Second Life, das immer noch eine treue Schar von geschätzt einer Million Bewohner hat. Seit Beginn der Pandemie verzeichnet der Urahn der virtuellen Welten einen 60-prozentigen Zuwachs bei Neuregistrierungen, sagt Linden Lab CEO Ebbe Altberg dem “Tennessee Journalist”. Dabei gehe es den Neuzugängen nicht um Freizeitspaß, sondern vor allem um E-Learning und Konferenzen. “Pädagogen und Kommunikatoren suchen eine persönlichere, interaktivere Alternative zu Skype und Zoom.”

Veröffentlicht am 15. April 2021

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